Dreihundert Jahre Ludwigsburg
3oo Jahre Ludwigsburg
Rainer Obrowski
Stadtgedanken
O Ludwigsburg, du edle Stadt
Wo es so viel Soldaten hat,
Artillerie, Infanterie
Und zweierlei Cavallerie,
Wie mehrt sich deine Gloria
Zumal durch die Cichoria!
Juche!
T. H. Vischer
Etliche Namen schreibt man mir zu, belegt und umschmeichelt mich damit, was meiner Substanz allerdings keinen Abbruch tut. Man bricht mir damit keinen noch so kleinen Zacken aus meiner barocken Krone! Natürlich bin ich dennoch eitel, narzisstisch und manchmal selbstverliebt, was bei einem viviparen Wesen wohl auch nicht erstaunt. Ich stehe felsenfest auf der von den mir gewogenen zeitlosen Göttern Kronos und Kairos bewachten dornenlosen Windrose; sie dient mir auch als Bett.
Mit der Zeit habe ich heftig zugenommen, bin breiter geworden rundum, ohne jedoch meine Leichtigkeit zu verlieren. Über mein hohes Alter muss ich ja nicht unbedingt sprechen, zumal ich mich im Vergleich mit vielen anderen meinesgleichen wie ein pubertierender Teenager fühle. Im Übrigen altere ich nicht, sondern verjünge mich zunehmend am Tropf der durch die Zeitläufte mäandernden Modernität, der ich allerdings Positives nur schwerlich abringen kann, wenn ich auch nicht von, sondern mit meiner Vergangenheit zu existieren versuche.
Als mein launischer kauziger Namenspatron, ein passionierter Reiter, Waidmann und Bellizist, achtundzwanzig Jahre alt war, musste es ein Jagd- und Lustdomizil sein, das er von unterdrückten geknechteten Frönern, welche auf diese Weise wenigstens dem verhassten Soldatspielen oder dem entwürdigenden Verkauf an fremde Kriegsfürsten entgingen, in absolutistischer Manier hatte mauern und zimmern lassen. Da hatte ich aber noch fünf Jahre geduldig auf meine eigentliche Geburt zu warten und anschließend noch einmal neun Lenze, bis der hohe Herr mir die Ehre seiner dauerhaften physischen Zuneigung erwies und das nicht zuletzt wohl wegen seiner Geliebten, einer gewissen Christiane Wilhelmine von G., die zu der zeitlosen Zunft derer gehörte, die damals Maitressen genannt wurden, woran man unschwer erkennen kann, dass die Herrschenden sich schon seit jeher blindlings darauf verstanden haben, sich einer sogenannten politisch korrekten Rhetorik zu bedienen. Diese machtstiftende Korrektheit war schon immer ein probates Mittel, um das Wesentliche, was die untertänigen Bürger in ihrer ihnen ureigenen Sprache zu sagen in der Lage sind, einzuschränken, zu tabuisieren, zu zensieren und damit über kurz oder lang zu eliminieren. Und das gelingt nun immer besser, weil das Ikebana des nichts sagend vielsagenden euphemistischen Wortes die duftende strahlende Blüte des klaren entwaffnenden Wortes verwelken lässt, was den sogenannten globalen Eliten jetzt im einundzwanzigsten Jahrhundert in Perfektion gelingt. Aber das sei nur en passant erwähnt, weil ich eben unter anderem nur zu genau weiß, welche schändlichen Schimpfwörter, die ich hier mit dem hauchzarten Schleier der Höflichkeit bedecken möchte, das gemeine Volk für die sein mühselig erarbeitetes Geld fressenden fürstlichen Maitressen damals auf der Zunge hatte.
Viele weit bekannt gewordenen Menschen habe ich in meinem Schoße beherbergt. Manche kamen und gingen, kamen wieder, legten sich in mir zur Ruhe, setzten mir sprachliche, musikalische, in Stein gehauene und in Bronze oder Eisen gegossene Denkmäler, trugen zu meiner Ausbreitung bei, waren mir gewogen wie einer treu sorgenden Mutter. Manche von ihnen, vor allem jene, welche sich der Sprache und der Musik verschrieben hatten, habe ich für immer in mein steinernes Herz geschlossen.
Ich denke so oft und gerne an den hypochondrischen Romantiker mit dem blauen Frühlingsband, der bis zum Tode seines Vaters, einem Arzt, der 1817 strarb, in meiner Oberen Marktstraße Nummer Zwei wohnte und der auf meinen weitläufigen Latifundien, wie ich mich erinnere, eine glückliche unbeschwerte Kindheit verlebte. In einem Tagebuch steht zu lesen: „Mörike ist ein tiefes schönes Gemüth. Er ist ganz Natur. Er ist die Beute des Augenblicks.“ Ein gewisser Friedrich Nietzsche, welcher sich zu vielem und vielen ungefragt äußerte und sehr arrogant sein konnte, sagte über dessen Werke: „Vor allem fehlt es an Klarheit und Anschauung. Und was die Leute an ihm musikalisch nennen, ist auch nicht viel und zeigt, wie wenig die Leute von Musik wissen.“ Ein hier im Lande geschätzter Wortgewandter namens Hesse schrieb: „Er lebte in der manchmal bis zum Trostlosen gesteigerten Einsamkeit, die jeden wahren Schöpfer ungewollt umgibt, und das tiefe goldige Leuchten /.../ ist aus schwerem Leid und Kampf geboren.“ Aber da hatte ich den Mörike schon aus den Augen verloren. Er selbst erinnerte sich an seine Kindheit, indem er mir eine Eloge schenkte:
Mir ein liebes Schaugerichte
Sind die unschmackhaften Früchte,
Zeigen mir die Prachtgehänge
Heimatlicher Schattengänge
Da wir in den Knabenzeiten
Sie auf lange Schnüre reihten,
Um den ganzen Leib sie hingen
Und als wilde Menschen gingen,
Oder sie auch wohl im scharfen
Krieg uns an die Köpfe warfen.
Trüg' ich, ach, nur eine Weile
Noch am Schädel solche Beule,
Aber mit der ganzen Wonne
Jener Ludwigsburger Sonne!
Der kleine Fritz lebte von seinem siebten bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr in meiner Stuttgarter Straße Nummer Sechsundzwanzig, wo er – unter den Geldsorgen seiner Eltern leidend – den blendenden Glanz des herrschaftlichen Hofes vor Augen an der elitären Lateinschule geschlagen, geprügelt und wie ein Hund dressiert wurde und zuhause zudem unter den Züchtigungen seines aufbrausenden patriarchalischen Vaters litt. Manches Mal tat mir der aufgeweckte Junge wirklich leid und es tat mir in der Seele weh, wenn ich den Kleinen, in einer Ecke seiner kargen Kammer zusammengekauert, jammern und weinen hörte. Aber immerhin wurden ihm die über alles geliebten Theater- und Bibliotheksbesuche, bei denen seine großen Augen wie Diamenten glänzten und funkelten, nicht verwehrt. Der derbe Schubart fand sich dort auch des öfteren ein. In seinem erwachsenen Leben beehrte mich der nun schon bekränzte Friedrich Schiller noch einmal, als er 1793 unter meinen Fittichen den dreiundzwanzigjährigen Hölderlin traf. Leider war ich damals anderweitig so sehr beschäftigt, dass ich ihren ausgiebigen Gesprächen nicht lauschen konnte.
Als mich das Biedermeier beseelte, tollten Justinus Kerner, David Friedrich Stauß und Friedrich Theodor Vischer durch meine gepflasterten Gassen. Besonders mag ich Vischers Gedicht „In der Vaterstadt“, trotz dass mir 'Mutterstadt' besser gefallen hätte, das er über seine Kindheit verfasste, er, der ja eigentlich kein wahrer Dichter war. Diese Verse habe ich noch im Ohr:
In der Vaterstadt
Das sind die alten Wege,
Die schattigen Alleen,
Des Parkes alte Stege,
Felsburg und kleine Seen.
Das sind die alten Gassen,
Der Marktplatz leer und breit,
Vollauf ist Raum gelassen
Für Kinderlustbarkeit.
Das sind die Laubengänge,
Die uns so wohl behagt,
Durch deren luft'ge Länge
Wir jauchzend uns gejagt.
Und hier am Hallenbaue,
Hier steht das Vaterhaus.
Ehrwürdig Haupt, o schaue -
Ich harre – schau heraus!
O Mutterbild erscheine.
Geschwister kommt an's Licht!
Der teuren Seelen keine
darf fehlen. Säumet nicht!
Ist mancher so gegangen
Und hat zurückgedacht,
Wie er mit Kinderwangen
Hier einst gespielt, gelacht! -
Ach ja, fast hätte ich sie vergessen, die stolzen Soldaten und mächtigen Kasernen, die mir vor langen Jahren den martialischen Dienstgrad einer Garnisonsstadt eintrugen. Where have all the soldiers gone? Diese Frage höre ich oft in allen erdenklichen Sprachen, allein, ich weiß sie nicht zu beantworten. Nein, verwaist sind die Kasernen nicht.
Kunstschaffende jedweder Couleur bevölkern die ursprünglich säbelrasselnden Soldaten verbehaltenen Gebäude, die nund als Kunst- oder Film- und Medienzentrum firmieren, so dass sogar meine große Schwester Los Angeles vom Pazifik umspült erstaunt Notiz davon genommen hat. Nicht dass die große weite Welt dadurch unbedingt besser würde, aber die meinige ist bunter. Des bin ich froh!



